Saturday, December 31, 2011

"Wir wissen, wie sicher unsere Kernkraftwerke sind"


Kontrolle. Ein vierjähriges japanisches Mädchen wird auf Strahlung getestet. Zuletzt wurde radioaktives Cäsium in Milchpulver für Babys gefunden. Foto: Reuters
Kontrolle. Ein vierjähriges japanisches Mädchen wird auf Strahlung getestet. Zuletzt wurde radioaktives Cäsium in Milchpulver für Babys gefunden. - FOTO: REUTERS
Mit diesem Satz irrte Bundeskanzlerin Merkel. Auch die Japaner glaubten an die Sicherheit ihrer Atomkraftwerke. Dann kam Fukushima. Seitdem sind die Menschen gewarnt. Oder? Eine Reportage.




Was soll er dazu sagen? Der Mann, lang und dürr, atmet ein. Er neigt den Kopf zur Seite. Er überlegt und sagt dann: „Einfach weitermachen.“ Das sei die einzige Lösung, die ihm einfalle. Kein Platz für große Wünsche in seinem kleinen Laden. Weitermachen.
Koki Ui ist Besitzer eines Geschäfts, das es in anderen Ländern vermutlich nicht mehr gäbe. In Deutschland jedenfalls wäre das wohl so. In Japan hingegen hat Koki Ui, wenn er es recht überlegt, keine Kunden verloren in den vergangenen Monaten. Er verkauft Produkte aus Fukushima – und zwar ausschließlich.
Es ist die Region in Japans Norden, in der nach dem schweren Erdbeben am 11. März Reaktoren des Kernkraftwerkes Daiichi explodierten, Brennstäbe schmolzen, Radioaktivität entwich; deren Name Synonym geworden ist für „Katastrophe“.
Die Ruine des Kraftwerks sachgemäß abzureißen, sagt die japanische Regierung, könne 40 Jahre dauern.
„In den ersten zwei Monaten nach der Katastrophe habe ich zehnmal mehr verkauft als zuvor“, erzählt Ui, lächelt und erklärt dann schnell: „Die Menschen kauften aus Solidarität.“
Das Geschäft von Koki Ui liegt in der Nähe des Bahnhofs in Tokio und ist recht übersichtlich. Es ist ein Laden unter vielen kleinen, die Spezialitäten aus den einzelnen Präfekturen des Landes verkaufen, aus Yamagata, aus Hokkaido, Iwate oder eben aus Fukushima; ein Raum, den der Einkäufer mit vielleicht 15 Schritten in der Länge durchmessen hat und vier in der Breite, mit Regalen vor allem an den Seitenwänden. Ui verkauft alles, vom Gemüse bis zur Süßigkeit. Auf einem Teller liegen ein paar Kekse zum Probieren.
Als das Leben in Tokio nach dem Erdbeben sich wieder zurechtgerüttelt hatte, da sorgte auch Ui sich wegen der Nachrichten, die aus Fukushima in die Hauptstadt drangen. Verseuchung des Bodens, Evakuierung der Menschen, Verstrahlung von Lebensmitteln. Doch waren die Überlegungen des Herrn Ui eher genereller Natur, hauptsächlich Sorge um die Menschen vor Ort, weniger um sein Gemüse.
Aber kümmerte denn niemanden die Gefahr? „Am Anfang“, sagt Ui, „kamen gar keine Fragen nach der Strahlung.“ Nun hat die Regierung – erhöhte – Grenzwerte für Lebensmittel festgelegt. Es gibt Kontrollen. Und wer Sorgen hat, kauft einfach woanders. Inzwischen sei der Kundenverkehr wieder ganz normal, sagt Ui, so wie vor dem 11. März.
Während die Deutschen Angst hatten vor verstrahltem Sushi im eigenen Land, kaufen die Menschen in Japan die Produkte ihrer Landsleute, um deren wirtschaftlichen Ruin abzuwenden – was vermutlich kaum möglich sein wird. Der Wunsch, einander zu helfen, ist größer als die Angst vor möglicherweise lebensgefährlichen Krankheiten, die Pilze und Reis aus der Gegend um das havarierte Kraftwerk mit sich bringen könnten.
Anfang Dezember berichten die Medien in Japan, dass in Milchpulver für Babys radioaktives Cäsium gefunden worden sei, wenn auch weniger als gesetzlich gestattet. Die japanische Nachrichtenagentur Kyodo meldet, das herstellende Unternehmen vermute, dieser Fund könne auf die Vorfälle in Fukushima zurückzuführen sein. Kurz zuvor stellt sich bei Stichproben heraus: Auch der Reis aus der weiteren Gegend um das havarierte Kraftwerk ist verstrahlt.
Man muss eben aufpassen, was man kauft, sagen Tokios Bewohner. Aufpassen heißt vor allem: Informationen selber suchen.
Im Grunde, meint der Politiker Mitsuru Sakurai, habe sich die Informationspolitik im Land seit dem Zweiten Weltkrieg nicht verändert. Auch damals habe die Armee positive Nachrichten veröffentlicht, die schlechten aber verheimlicht, um den Bürgern unnötige Sorgen zu ersparen. Selbst die Diagnose einer schlimmen oder sogar tödlichen Krankheit hätten Ärzte früher nicht mitgeteilt.
Sakurai ist in der Regierungspartei DPJ Leiter des Teams für den Wiederaufbau der Gebiete, die von Erdbeben und Tsunami zerstört wurden, vor allem aber ist er auch Arzt, er praktizierte in den schwer beschädigten Präfekturen Iwate und Miyagi. Hat er denn seinen Patienten immer alles gesagt? „In den meisten Fällen“, sagt er, „je nachdem, wie sie es aufnehmen konnten.“
In Japan gebe es bei vielen Kindern bereits den Verdacht, dass ihre Schilddrüse durch die Strahlung aus Fukushima geschädigt wurde. Die viel größere Gefahr, sagt Sakurai, sei aber die langfristige niedrige Strahlung, der die Menschen ausgesetzt seien. Wer kann schon jetzt abschätzen, zu welch gesundheitlichen Schäden die führen wird?


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