Tuesday, January 31, 2012

Bismarcks Stimme : Seine politische Karriere war zu Ende zu kommen


Die Spitzen des Reiches. Kaiser Wilhelm II. im Oktober 1888 zu Besuch bei Otto von Bismarck auf Schloss Friedrichsruh. Foto: picture-alliance / dpa
Die Spitzen des Reiches. Kaiser Wilhelm II. im Oktober 1888 zu Besuch bei Otto von Bismarck auf Schloss Friedrichsruh. - FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA
Die Aufnahme mit Bismarcks Stimme entstand 1889, dem Jahr, in dem ihm die Macht entglitt. Eine Einordnung der Tonaufnahmen in die historischen Ereignisse





Im Jahr 1889 neigte sich Bismarcks Herrschaft, die er seit 1862 über Preußen und seit dem 18. Januar 1871 über das von ihm auf „Blut und Eisen“ gegründete Deutsche Reich ausgeübt hatte, dem Ende entgegen. Otto von Bismarck konnte es ahnen. Er diente nun dem dritten Kaiser nacheinander, nachdem Wilhelm II. im Jahr zuvor, nach den 99 Tagen seines Vaters Friedrich III., als 30-jähriger Enkel des alten Wilhelm das Zepter in die Hand genommen hatte.
1889 war ein eher durchschnittliches Jahr, jedenfalls nach den Maßstäben Bismarcks, der stets mit einer Fülle von Problemen zu hantieren verstand. Ende Januar erklärte Bismarck im Reichstag: „Ich betrachte England als den alten und traditionellen Bundesgenossen, mit dem wir keine Streitigkeiten haben“, und er „wünsche die Fühlung, die wir seit nun doch mindestens 150 Jahren mit England gehabt haben, festzuhalten, auch in den kolonialen Fragen“.

Letzteres war das herausragende Problem dieses und der folgenden Jahre: der Kolonialismus. Ein gutes Jahrzehnt zuvor, bei der Berliner Afrika-Konferenz von 1878, hatte Bismarck noch als der „ehrliche Makler“ auftreten können, der ein Reich ohne größeren kolonialen Besitz vertrat und den uralten Zwist zwischen Großbritannien und Frankreich ausbalancierte. Mittlerweile aber waren die Nationalliberalen, auf die sich Bismarck innenpolitisch stützte, auf Kolonialerwerb aus und beförderten eine Politik, die sich als verheerend für die Stellung des Deutschen Reiches auswirken sollte. Eines Landes, von dem Bismarck im Unterschied zu seinen Nachfolgern wusste, dass es das „Reich in der Mitte Europas“ war, bedroht von und angewiesen auf die anderen europäischen Mächte, Frankreich im Westen, Russland im Osten und Großbritannien auf den Meeren.

Historisches Tondokument : Otto von Bismarck: Der Ton der Geschichte


Otto von Bismarck Foto: dpa
Otto von Bismarck - FOTO: DPA
Es ist der Klang einer Stimme aus der Geschichte: Einem alten Tondokument sei Dank können wir Otto von Bismarck sprechen hören. Wird damit der Tonträger zum Wertträger?




Was ist von Wert? Nein, diesmal ist nicht von einer ökonomischen Größe die Rede, sondern von einer immateriellen; wiewohl sich deren Wert materialisiert hat in einem Tonträger. Die Rede ist davon, dass wir Otto von Bismarck sprechen hören können. Ja, richtig gelesen! Bismarck spricht, Edison sei Dank, auf einem der ältesten Tondokumente deutscher Zunge. Und das ist insofern von Bedeutung, als es sich um eine Rarität handelt, um etwas, das uns – uns selbst betreffend – in unserer gegenwärtigen Welt abhanden zu kommen scheint. In dieser Welt, der modernen, ist es gang und gäbe, sich gewissermaßen zu entäußern, beinahe alles von sich öffentlich zu machen, sei es in Bild oder Ton.
So wie wir versuchen, der Welt alle Geheimnisse zu entlocken oder zu entreißen, so debattieren wir ja gerade auch, ob das eigene Leben nicht auch nur eine Zeitleiste – eine „Timeline“ – sein sollte, quasi katalogisiert und damit archiviert. Ob das Leben mit seinen subjektiven Windungen und Wendungen auf diese Weise zugleich auch objektiviert wird, ist eine Frage, die in diesem Zusammenhang selten gestellt wird. Aus psychologischer Sicht wäre das allerdings nötig, weil es zum Leben dazu gehört, vergessen und verdrängen zu dürfen; und aus nahezu philosophischer Sicht auch, weil nicht nur der Mensch, wie er geht und steht, der eigentliche Mensch ist, sondern auch, wie er sich selbst sieht und nach außen darstellt.
Wo nun immer mehr bekannt wird, selbsttätig bekannt gemacht, ist von Rarität keine Rede mehr. Dabei sind Raritäten doch gerade das, wonach der Mensch sucht, was man außerdem in der Menschheitsgeschichte als Wertträger immer zu mehren versuchte. Nun gibt es also wieder eine Rarität, und zwar aus der Zeit, in der Dokumente aller Art nicht frei verfügbar waren. Allein das klingt schon abenteuerlich, noch dazu aber ist es eine Rarität, eine Novität, die buchstäblich hinterm Bett gefunden wurde – was den Reiz, die Neugier auf das nicht Gekannte erhöht. Auch die Faszination dieser seltenen Form der Authentizität, die aus einer fernen Zeit in eine Gegenwart kommt, deren Zeugnisse übermächtig, weil alltäglich und allgegenwärtig sind.
Otto von Bismarck spricht! So wie bei Reden oder populärer Musik, die wir heute hören, der Reiz im authentischen Beleg für Ansichten oder Stimmungen einer Partei oder gesellschaftlichen Gruppe liegt, so kommt bei Bismarck – oder Moltke – noch mehr hinzu: Es ist der Klang einer Stimme aus der Geschichte. Wir kennen die großen, begleitenden Umstände, wir wissen im wesentlichen, was daraus geworden ist, nur nicht immer, wie es dazu kam. Jetzt lernen wir eine neue Facette kennen, gewissermaßen hören wir den beherrschenden Teil der Partitur. Wir hören ihren Ton. Der macht die Person, die nach Maßgabe der Geschichtsschreibung ausgedeutet zu sein schien, lebendig. Ein Klangbild beginnt, ein Bild zu vervollkommnen – oder den Wunsch zu begründen, sich neu oder noch einmal damit zu befassen. Bismarck, der Englisch spricht! Dem die Marseillaise einfällt, als er etwas auf dem Tonträger hinterlassen soll!
Solche Entdeckungen sind für die Gegenwart wohl eher nicht an der Tagesordnung. Da fügen sich Tondokumente, überhaupt Dokumente nicht zu einem kohärenten Bild, sondern bilden einen Wust, der durch die auch noch ständig wachsende, unstrukturierte Fülle gleichsam undurchdringlich wird und damit abwehrend wirkt. Auf diese Weise Kultur zu erschließen, wird auch deshalb schwieriger, weil die Zahl der an politischen und gesellschaftlichen Fragen Interessierten sinkt und sich, wenn, dann eher in Fangemeinden diversifiziert. Geschichtsschreibung wird nur vermeintlich einfacher, es kann sogar sein, dass der Wunsch, herauszufinden, was wen geleitet und die Gesellschaft geformt hat, von eben der Fülle erstickt zu werden droht. So ist es allein schon viel Wert, dass der Fund dazu zwingt, an diesem Tag nicht auf die Fülle zu achten, sondern auf diesen Tonträger als Wertträger für unsere Zivilisation.

Nach mehr als 100 Jahren wiedergefunden Die unglaubliche Geschichte der Bismarck-Aufnahmen


Edison auf Europatournee. Der Erfinder sitzt in der Mitte vor seinem Phonographen. Dahinter sein Mitarbeiter Theo Wangemann. Foto: National Park Service
Edison auf Europatournee. Der Erfinder sitzt in der Mitte vor seinem Phonographen. Dahinter sein Mitarbeiter Theo Wangemann. - FOTO: NATIONAL PARK SERVICE
Knistern, Rauschen und merkwürdige Texte. Offenbar auf Deutsch. Die amerikanischen Forscher wunderten sich über die Töne, die sie auf einer Phonographenwalze aus dem Jahr 1889 fanden. Schnell wird klar, dass hier ein Schatz zu heben ist.




In good old colony times,/When we lived under the King …“ Ein Mann rezitiert die ersten Zeilen eines im 19. Jahrhundert in den USA populären Volksliedes mit unverkennbar deutschem Akzent. Die Stimme gehört dem 74-jährigen Otto von Bismarck, Kanzler des Deutschen Reiches. Es ist die einzige Tonaufnahme Bismarcks. Eine historische Sensation, sagt der Berliner Restaurator Stephan Puille, Laboringenieur an der Hochschule für Technik und Wirtschaft. Entstanden ist die Aufzeichnung 1889 mit dem Phonographen des amerikanischen Erfinders Thomas Edison. Betätigt hat das Gerät Theo Wangemann, ein deutschstämmiger Mitarbeiter Edisons, der 1889/90 durch Europa reiste, um den Phonographen öffentlich vorzuführen – und Aufnahmen prominenter Stimmen zu machen.


Weit über 100 Jahre lang waren diese Aufnahmen vergessen, die Wachswalzen aus Edisons Phongraphen galten als verschollen. Doch jetzt hat die Stiftung, die Edisons Nachlass verwaltet, die Tondokumente teilweise veröffentlicht – begleitet von der schier unglaublichen Geschichte ihrer Wiederentdeckung und ihrer Entstehung.
Eine hölzerne Kiste mit Phonographenwalzen hatten Mitarbeiter des Edison-Museums in seinem ehemaligen Labor in West Orange, New Jersey, schon 1957 gefunden. Doch erst 2005 wurde die Kiste erneut untersucht, ihre mögliche Bedeutung erkannt. Äußerlich war den Walzen aus einem wachsähnlichen Material nicht anzusehen, was auf ihnen aufgezeichnet ist, sagt Stephan Puille. Es gelang den Forschern des Edison-Archivs, 12 der insgesamt 17 Tonträger abzuspielen und sie in digitale Audiofiles umzuwandeln.
Video: Otto von Bismarck, Friedrichsruh, 7. Oktober 1889 - VIDEO: NATIONAL PARK SERVICE
Schnell wird klar, dass hier ein Schatz zu heben ist. Johannes Brahms spielt seinen „Ungarischen Tanz Nr. 1“, der Kölner Musikologe, Komponist und Pianist Otto Neitzel spielt Auszüge des 3. Satzes des Klavierkonzertes Nr. 2 in f-moll von Frédéric Chopin, die erste überlieferte Aufnahme eines Chopin-Stücks.
Doch vieles blieb den amerikanischen Experten unverständlich, nicht nur wegen der schlechten Aufnahmequalität, des Knisterns und Rauschens, die der Phonograph erzeugt. Unidentifizierbares Tondokument, wahrscheinlich deutsche Stimmen – mit dieser Anfrage wendet sich im Frühjahr 2011 ein beteiligter Medienhistoriker an den Berliner Restaurator Stephan Puille, einen international bekannten Experten für frühe Tonaufnahmen.
„Friedrichsruh am 7. Oktober 1889“, knarzt eine männliche Stimme auf dem Audiofile, das sich Puille immer wieder vorspielt. Friedrichsruh, der Familiensitz der Bismarcks bei Hamburg. Für den historisch bewanderten Puille ist das ein Zeichen, an das er anknüpfen kann. Dass Bismarck dort 1889 Tonaufnahmen mit Edisons Phonographen gemacht hat, war den Zeitgenossen bekannt. Wie aus einem Forschungsbericht Puilles hervorgeht, schrieben unter anderem die „Wöchentlichen Anzeigen für das Fürstentum Ratzeburg“ und die „New York Times“ darüber. Die Berichte der Zeitungen deckten sich mit dem, was der Berliner Experte nach und nach heraushören, dechiffrieren konnte.
Das Aufzeichnungsgerät: der Phonograph. Foto: Stuart Miller
Das Aufzeichnungsgerät: der Phonograph. - FOTO: STUART MILLER
Nach dem englischsprachigen Volkslied spricht Bismarck einige Verse auf Deutsch aus der Heldenballade „Schwäbische Kunde“ von Ludwig Uhland: „Als Kaiser Rotbart lobesam/Zum heil’gen Land gezogen kam …“ Ebenso flüssig und zugleich getragen rezitiert Bismarck danach das alte Studentenlied „Gaudeamus igitur“. Weiter spricht er auf Französisch die ersten Zeilen der Marseillaise, der französischen Nationalhymne. Die Rezitation des Reichsgrafen endet mit dem „Rat eines Vaters an seinen Sohn“, Arbeit, Essen und Trinken „in Maßen und Sittlichkeit“ zu treiben.
Ein merkwürdiges Sammelsurium kurzer Liedzeilen und Verse, willkürlich als eine Art Testaufnahme in den neuartigen Phonographen des fernen amerikanischen Erfinders gesprochen? Stephan Puille erklärt die teils banale, teils provokative Textauswahl aus der Zeit und dem Umständen der Aufnahme. Wangemann habe erwartet, dass Bismarck sich mit einer Botschaft an die Deutschen diesseits und jenseits des Atlantiks wenden würde. Ein solcher Text sei offenbar auch schon vorbereitet gewesen. Doch dann habe sich Bismarck doch nicht dezidiert politisch äußern wollen. So entschied er sich für unverfänglichere Zitate. „In Good Old Colony Times“ etwa sei als Gruß an Edison zu verstehen. Der Rat des Vaters richtete sich wohl an einen Sohn Bismarcks.

Freikarten Berliner Fraktionen stoppen Vergabe der VIP-Tickets


Hoher Besuch. Auch Klaus Wowereit war schon im Stadion von Union. Foto: dpa
Hoher Besuch. Auch Klaus Wowereit war schon im Stadion von Union. - FOTO: DPA
Das Verbot der Spendenannahme für Abgeordnete gilt laut Gutachten für viele Freikarten. Nun diskutiert das Berliner Landesparlament über eine gesetzliche Neuregelung.




Ein Rechtsgutachten des Abgeordnetenhauses wirft ein neues Licht auf die Frage, ob Berlins Volksvertreter kostenlose Eintrittskarten für Sport- oder Kulturveranstaltungen annehmen dürfen. Der Wissenschaftliche Dienst des Parlaments kommt in einem vertraulichen Papier, das dem Tagesspiegel nun vorliegt, zum Ergebnis: Die Annahme solcher Freikarten verstößt in bestimmten Fällen gegen das Spendenannahmeverbot im Parteien- und im Landesabgeordnetengesetz. Als sie dies erfuhren, stoppten SPD, CDU und Grüne die Verteilung von Gratistickets.
Die Parlamentsjuristen stellten zudem fest, dass jede Freikarte versteuert werden müsse, weil sie für die Begünstigten einen Wertzuwachs bedeute. Nur in sehr begrenzten Ausnahmefällen, „zum Beispiel wenn die Teilnahme an einer Sportveranstaltung zwingende berufliche Gründe hat“, entfalle die Steuerpflicht. Strafrechtlich relevant sei die Annahme von Freikarten nicht, steht im Gutachten. Um Bestechlichkeit und Vorteilsannahme handele es sich nicht, weil Abgeordnete keine Amtsträger seien. Für eine Abgeordnetenbestechung müsse ein Stimmenkauf nachgewiesen werden.
Der Wissenschaftliche Dienst weist auf den niedersächsischen Landtag hin, der 2010 eine klare gesetzliche Regelung traf. Freikarten für Veranstaltungen dürfen nur angenommen werden, „wenn die Teilnahme der Ausübung des Mandats dient oder der Abgeordnete damit einer repräsentativen Verpflichtung nachkommt“. Das Berliner Gutachten lässt hingegen noch Fragen offen, weil es einen Spezialfall bewertet. Der 1. FC Union wollte, wie es Hertha BSC seit vielen Jahren praktiziert, ebenfalls Gratistickets an Abgeordnete verteilen. Weil Union gemeinnützig ist, fallen deren Freikarten unter das Spendenannahmeverbot des Parteiengesetzes. Zwar ist auch Hertha ein gemeinnütziger Verein, aber die unternehmerisch ausgegliederte Profiabteilung, zu der auch das Fußball-Erstligateam gehört, ist es nicht. Nicht untersucht wurde, ob landeseigene oder öffentlich bezuschusste Theater, Opern oder Orchester ebenfalls unter das Freikartenverbot fallen.



Wegen Haftbedingungen : Berlin droht Klagewelle von Häftlingen


In Berliner Gefängnissen herrschen beengte Zustände. Mehrere Häftlinge haben das Land deshalb auf Schadenersatz verklagt. Foto: dpa
In Berliner Gefängnissen herrschen beengte Zustände. Mehrere Häftlinge haben das Land deshalb auf Schadenersatz verklagt. - FOTO: DPA
Dem Land Berlin drohen Tausende Entschädigungsklagen wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen. Die Schadenersatzforderungen betragen in Einzelfällen mehrere Zehntausend Euro.




Wie der Tagesspiegel aus Justizkreisen erfuhr, bereiten Dutzende ehemaliger und noch einsitzender Häftlinge solche Anträge vor – teilweise mit Aussicht auf mehrere 10 000 Euro Entschädigung. Bislang sind schon Urteile in erster Instanz gefällt worden, bei denen Ex-Häftlingen bis zu 4000 Euro zugesprochen wurden.
In einem aktuellen Fall steht im April eine Entscheidung an. Dem dazugehörigen Antrag auf Prozesskostenhilfe durch den Kläger hat das Landgericht stattgegeben. Prozesskostenhilfe wird nur bei hinreichender Erfolgsaussicht gewährt. Die Richter gehen von einer aussichtsreichen Klage auf 38 400 Euro Entschädigung für den Ex-Häftling aus.

Die Summe stünde ihm womöglich deshalb zu, weil er 1182 Tage in der Justizvollzugsanstalt Tegel unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert war: So war der Mann unter anderem 354 Tage im Haus I der Anstalt untergebracht. Allein für diese Zeit, erklärte das Gericht, dürften „50 Euro je Tag gerechtfertigt“ sein. Hintergrund ist ein Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs von 2009, wonach Zellen in Haus I von 5,25 Quadratmeter Größe gegen die Menschenwürde verstoßen. Der Mann wird von dem Anwalt Bernd Brunn vertreten, der weitere 270 Mandanten in ähnlichen Fällen betreut.
„Das ist ein Thema, was uns beschäftigt“, sagte der neue Berliner Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) am Dienstag. Er werde für menschenwürdige Haftbedingungen sorgen. Heilmann wies auch darauf hin, dass noch kein Urteil rechtskräftig sei. In dem aktuellen Fall sprechen die Richter von einer „vorsätzlichen weiteren Benutzung der Zellen durch den Antragsgegner trotz der Entscheidung des Verfassungsgerichtshof“, was eine Entschädigung nach sich ziehen dürfte. Schon kurz nach dem Urteil 2009 hatte die frühere Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) gesagt, die Entscheidung mache „erhebliche praktische Schwierigkeiten“. Berliner Gefängnisse sind seit Jahren überfüllt. Zwar wird das Haus I kaum noch belegt. Umfassend umgebaut worden ist es aber nicht. Noch sind dort 22 Männer untergebracht. Derzeit wird im brandenburgischen Großbeeren eine neue Anstalt gebaut. Dort sollen 650 Gefangene untergebracht und Haus I in Tegel geschlossen werden.

Allerdings ist auch das Haus III in der Justizvollzugsanstalt Tegel umstritten, wo 311 Männer einsitzen. Hier könnten für viele Kläger 25 Euro Entschädigung pro Tag anfallen. Die Ansprüche dürften Anwälten zufolge erst nach drei Jahren verloren gehen. Zahlreiche Anwälte sagten, dass sie für ihre Mandanten ähnliche Klagen vorbereiteten. „Die Aussichten sind gut“, sagte Rechtsanwältin Diana Blum. Nicht ausgeschlossen sei, dass man für viele Mandanten mehrere 10 000 Euro einfordere, erklärte Sebastian Scharmer, Ex-Sachverständiger im Rechtsausschuss des Bundestages. Der Anwalt vertritt auch Berliner Sicherungsverwahrte, die nach einem aufsehenerregenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2011 freigelassen werden müssen oder deutlich bessere Unterbringungen zu bekommen haben: „Auch dabei stehen Entschädigungen an.“ Dies sei das „gute Recht“ der Häftlinge, sagte Benedikt Lux, Rechtsexperte der Berliner Grünen. „Es war lange bekannt, dass sich Berlin durch die Zustände haftbar macht.“ Wer Entschädigungen beansprucht, muss Juristen zufolge aber nicht nur unter Platzmangel, sondern etwa auch unter langen Verschlusszeiten gelitten haben.


Frankreich : MPs keep-Völkermord Gesetz für verfassungswidrig


Die Gegner des Genozid-Gesetzes werfen dem Staatschef Sarkozy vor, er wolle damit bei den armenisch-stämmigen Franzosen auf Stimmenfang gehen. Foto: dpa
Die Gegner des Genozid-Gesetzes werfen dem Staatschef Sarkozy vor, er wolle damit bei den armenisch-stämmigen Franzosen auf Stimmenfang gehen. - FOTO: DPA
Das umstrittene Genozid-Gesetz in Frankreich geht vor das Oberste Gericht. Mehr als 100 Abgeordnete aus Senat und Nationalversammlung wollen gegen den Beschluss, die Leugnung von Völkermorden unter Strafe zu stellen, klagen.




Über 70 Senatoren gehen vor dem Obersten Gericht Frankreichs gegen das umstrittene Genozid-Gesetz vor. Die Abgeordneten gehörten allen politischen Lagern an, sagte der linke Senator Jacques Mezard am Dienstag in Paris. Weitere 50 Parlamentarier aus der Nationalversammlung beteiligten sich an dem Vorstoß. Auch Abgeordnete der konservativen Regierungspartei UMP, die das Gesetz eingebracht hatte, schlossen sich dem Gang vor den Verfassungsrat an. Dieser prüft ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Für eine Anrufung des Verfassungsrates sind eigentlich nur 60 Abgeordnete nötig.
Der Verfassungsrat muss innerhalb eines Monats über den Einspruch entscheiden.

Das Verbot von Völkermord-Leugnungen, welches auch den Massenmord an Armeniern im Osmanischen Reich als Genozid festschreibt, hatte das Klima zwischen Frankreich und der Türkei erheblich belastet. Der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan bezeichnete das Gesetz als “rassistisch und diskriminierend“. Bereits im Dezember hatte die Zustimmung der französischen Nationalversammlung zu dem Gesetz zu großem Unmut in der türkischen Regierung geführt. Der Botschafter in Paris wurde zeitweise abgezogen, die militärischen Beziehungen auf Eis gelegt.
Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan begrüßte die Initiative, die das Gesetz nun vorerst gestoppt hat: „Ich hoffe, dass der Verfassungsrat das Notwendige tun wird“, sagte er in Ankara.
Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, dem die Türkei vorgeworfen hatte, das Gesetz aus wahltaktischen Gründen voranzutreiben, machte seine Ablehnung der Verfassungsratsinitiative deutlich. Vor UMP-Abgeordneten sagte er Teilnehmern zufolge: „Das ist nicht hilfreich.“ Nach Ansicht der Türkei will sich Sarkozy durch das Gesetz die Stimmen der mehr als 400.000 armenischstämmigen Wähler bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr sichern.
Der Senat hatte vor einer Woche das Gesetz verabschiedet, das die Leugnung eines in Frankreich anerkannten Völkermordes unter Strafe stellt. Dazu zählt das Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich zwischen 1915 und 1917, bei dem nach armenischen Angaben 1,5 Millionen Menschen starben. Die Türkei weist den Vorwurf des Völkermords entschieden zurück und geht von einer Opferzahl von bis zu 500.000 Menschen aus.
Die türkische Regierung hatte nach der endgültigen Verabschiedung des Gesetzes zunächst auf eine Verschärfung von bereits im Dezember verhängten Sanktionen gegen Frankreich verzichtet. Die Türkei hatte damals ihren Botschafter aus Paris zurückbeordert und die militärische Zusammenarbeit ausgesetzt.

Nun hob Erdogan in Ankara mit Blick auf die Anrufung des Verfassungsrates hervor: „Der Schritt entspricht dem, was wir von Frankreich erwarten.“ Der Verfassungsrat muss sich binnen eines Monats zu dem Einspruch gegen das Gesetz äußern, auf Antrag der Regierung auch innerhalb einer verkürzten Frist von acht Tagen. (AFP/Reuters)


Noch ein Gipfel Griechische Finanzminister kündigt €-Gruppe am Montag


Evangelos Venizelos, griechischer Finanzminister Foto: dpa
Evangelos Venizelos, griechischer Finanzminister - FOTO: DPA
Kaum ist der EU-Gipfel in Brüssel vorbei, steht schon das nächste Treffen an. Im Mittelpunkt soll dann die Lage in Griechenland stehen, sagt der griechische Finanzminister. Bis dahin soll auch der angepeilte Schuldenschnitt in trockenen Tüchern sein.



Der griechische Finanzminister Evangelos Venizelos hat am Dienstag ein bislang nicht geplantes Treffen der Finanzminister der Eurogruppe in Brüssel angekündigt. „Am Montag, den 6. Februar, wird es erneut ein Treffen der Eurogruppe geben“, sagte Venizelos vor Journalisten in Athen. Im Mittelpunkt stehen dann die Lage in Griechenland in Zusammenhang mit dem angepeilten Schuldenschnitt der privaten Gläubiger und das griechische Spar- und Stabilisierungsprogramm, hieß es.
„Wir müssen unsere Arbeit machen und bis zum Ende dieser Woche die Verhandlungen mit der «Troika« über das neue Sparprogramm abschließen“, sagte Venizelos. In Zusammenhang mit dem angestrebten Schuldenschnitt von 100 Millionen Euro stünden Griechenland und die Banken „einen Schritt vor Abschluss der Verhandlung“, sagte Venizelos.
Venizelos schätzte, dass der Schuldenschnitt höher sein werde als bislang angepeilt. Nach seinen Worten könnten die Verluste der privaten Gläubiger die Marke von 70 Prozent erreichen. (dpa)

Monday, January 30, 2012

Selchow bei dem Absturz kommt bald von allen Seiten


Nah dran. Die Einwohner Selchows müssen seit Jahrzehnten mit Lärm vom Flughafen Schönefeld leben. Foto: Claus-Dieter Steyer
Nah dran. Die Einwohner Selchows müssen seit Jahrzehnten mit Lärm vom Flughafen Schönefeld leben. - FOTO: CLAUS-DIETER STEYER
Der große neue Airport rückt noch näher an das Dörfchen Selchow heran. Doch Lärm machen hier nicht nur die Flugzeuge





Der Lärm kommt in wenigen Monaten von allen Seiten. Dann dürfte sich niemand mehr im kleinen Selchow am Rand desneuen Großflughafens mehr wohlfühlen können. Denn zum Krach der Maschinen kommt noch einiges mehr hinzu. Direkt hinter den letzten Häusern wächst das neue Messegelände für die Internationale Luftfahrtausstellung (ILA) und viele weitere Ausstellungen. Die unausweichlichen Automassen werden sich auf der neuen Straße am Ort vorbeiwälzen. Für den öffentlichen Nahverkehr entsteht an der Stelle des kürzlich abgerissenen Selchower Bahnhofs ein großer Busbahnhof, wo die Zubringer für die täglich bis zu 80 000 ILA-Besucher an- und abfahren.
Dazu kommt die viergleisige Eisenbahn zum Flughafen, die erst kurz hinter der Selchower Ortsgrenze im Tunnel verschwindet. Schon jetzt donnern auf einer anderen Bahnstrecke Güter- und Personenzüge am Dorf mit seinen rund 200 Einwohnern vorbei.
„Das ist hier wirklich nicht mehr zum Aushalten“, sagt Anwohner Heiko Ribbecke. „Von Lebensqualität spricht hier niemand mehr. Man kann dem Ort eigentlich nur den Rücken kehren.“ Doch dann wird er nachdenklich. Irgendwie hänge er doch an seinem Hof, der ja schon seit Generationen in Familienbesitz sei. Beim Thema Schallschutzfenster winkt er ab. „Im Ort haben vielleicht fünf oder sechs Häuser neue Fenster bekommen“, erzählt er. Er habe vor längerer Zeit einen Antrag gestellt – bislang ohne Reaktion von der Flughafengesellschaft. Die beauftrage zudem wenig kompetente Firmen, die nur schlechte Qualität ablieferten. „Dafür ist mir mein Eigentum einfach zu schade.“ Er sehe der Zukunft jedenfalls mit Sorge entgegen.

Mit dieser Meinung ist er offenbar nicht allein, wie zwei Frauen vor der Kirche bestätigen. „Ich will sofort weg von hier, weil wir ja von allen Seiten regelrecht eingebaut werden“, sagt die ältere von beiden. „Die Flughafengesellschaft hat uns den Mist eingebrockt, jetzt soll sie auch für ein neues Haus irgendwo in einer ruhigen Gegend bezahlen.“ Die stelle sich aber stur und wolle nur den Zeitwert ihres Eigenheims bezahlen. In der Ferne heulen Triebwerke auf dem bestehenden Flughafen; der neue rückt noch näher an die Häuser heran.

Flughafen BER Berliner Taxifahrer drohen mit Boykott


LDS oder B? Das Taxigewerbe ist umkämpft. Foto: Mike Wolff
LDS oder B? Das Taxigewerbe ist umkämpft. - FOTO: MIKE WOLFF
In fünf Monaten eröffnet der neue Flughafen Berlin Brandenburg. Aber noch immer gibt es keine verbindlichen Regelungen zwischen Taxifahrern aus Berlin und dem Landkreis Dahme-Spreewald. Das Berliner Taxigewerbe schließt einen Boykott nicht aus.



Kein Taxi zum neuen Flughafen in Schönefeld? Was unglaublich klingt, könnte Wirklichkeit werden. Auch fünf Monate vor der Eröffnung des Flughafens Berlin Brandenburg ist immer noch nicht geregelt, unter welchen Vorgaben Taxifahrten stattfinden werden. Sollte es keine Einigung geben, schließt das Berliner Gewerbe sogar einen Boykott des neuen Flughafens nicht aus.
Jetzt hat die Senatsverkehrsverwaltung einen neuen Anlauf gemacht und dem Landkreis Dahme-Spreewald (LDS) einen geänderten Entwurf vorgelegt. Die Antwort werde in dieser Woche erwartet, sagte die Sprecherin der Verkehrsverwaltung, Daniele Augenstein.
Sollte sie für die Berliner nicht zufriedenstellend ausfallen, kann es auch hier zu Protestaktionen kommen. Die Crux liegt an der Lage des neuen Flughafens.
Er ist im Prinzip der Flughafen Berlins, liegt aber auf Brandenburger Gebiet. Und dort ist für das Taxigewerbe der Landkreis Dahme-Spreewald zuständig, der die Interessen der rund 200 Taxifahrer aus dem LDS-Gebiet vertritt, die am Flughafen auf Kunden warten. Schon heute sollten Fahrgäste darauf achten, in welches Taxi sie steigen. Wählen sie ein Fahrzeug mit LDS-Kennzeichen, sind längere Fahrten nach Berlin teurer als bei den Berliner Kollegen, weil unterschiedliche Tarife gelten. Durchgesetzt haben die LDS-Fahrer, dass sie sich in Schönefeld derzeit nicht in die Schlange einreihen müssen, sondern sich an der Spitze einordnen dürfen. Fahrgäste können aber auch in der Schlange das Taxi frei wählen und gezielt mit dem – derzeit noch – billigeren Berliner Kollegen fahren.

Nach den bisherigen Vorstellungen sollte in Zukunft generell bei Fahrten vom Flughafen nach Berlin der LDS-Tarif gelten, bei Fahrten aus der Stadt zum Flughafen aber die Berliner Preise gezahlt werden. Dagegen wehrt sich das Berliner Gewerbe vehement. Weil viele Taxameter nur zwei Tarifsysteme aufnehmen können, müsste in Berlin die Kurzstrecke entfallen. Außerdem könne der Fahrgast leicht betrogen werden, wenn ein Fahrer auch innerhalb Berlins den teureren LDS-Tarif einschalte, heißt es.



Großstadt-Geräusche Der Lärm der anderen


  • Wie kann man sich vor Alltagslärm schützen? Ohrenschützer sind wohl nur in der äußersten Not ein Hilfsmittel. Foto: dpa

    Wie kann man sich vor Alltagslärm schützen? Ohrenschützer sind wohl nur in der äußersten Not ein Hilfsmittel. - FOTO: DPA
"Der eigene Hund macht keinen Lärm, er bellt nur", sagt Tucholsky. Aber in der Großstadt ist der Mensch von anderen Menschen umgeben, von ihren Hunden, Autos, Flugzeugen. Wann werden Geräusche zur Gefahr für die Gesundheit?




Lärm bedeutet Krieg, das zeigt schon die Sprachgeschichte. Das frühneuhochdeutsche Verb „lerman“ entstand aus dem Wort „Alarm“, dessen unbetontes Anfangs-A eines Tages wegfiel. Alarm wiederum kommt aus dem italienischen „all'arme“, zu den Waffen.
Tatsächlich wird in modernen Großstädten erbittert um das Thema „Lärm“ gekämpft. „Das ist ja das Spezifikum des menschlichen Ohres: Man kann es nicht schließen wie die Augen“, sagt der Berliner HNO-Arzt Hans Behrbohm. Denn: Die Augen kann man schließen, die Ohren bleiben auf Empfang. Was uns aufschreckt, sind dabei vor allem die fremden, ungewohnten Geräusche. „Der eigene Hund macht keinen Lärm, er bellt nur“, bemerkte Kurt Tucholsky.

Fluglärm ist in Berlin und Mainz momentan das Thema Nummer eins. Foto: dapd
„Lärm ist das Geräusch der anderen.“ In der Großstadt gibt es viele dieser anderen.
Schon im 19. Jahrhundert, in dem die Städte explosionsartig wuchsen, überflügelten die Geräusche die allgegenwärtigen Gerüche in der Hitliste der Belästigungen des Großstadtlebens. So warnte etwa der Arzt Wilhelm Stekel vor den Geräuschen der Straßenbahn: „Tief in die Stunden des Schlafs hinein tönt der Lärm fort. Das Rasseln der Wagen, das Sausen und Stöhnen der Elektrischen, sie beschäftigen unser Gehirn auch im Schlaf.“
Flug-, Bau-, Verkehrslärm. Der größte Teil des Lärms dringt unverschuldet in unser Ohr. Doch manche Lärmquelle regeln wir selbst. Foto: dpa

Der Wiener Historiker und Stadtforscher Peter Payer ist der anschwellenden Geräuschkulisse und der bürgerlichen Kulturkritik des Lärms wissenschaftlich nachgegangen. Der Kulturphilosoph Theodor Lessing verfasste etwa im Jahr 1908 eine „Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens“ und gründete gleich noch einen „Antilärmverein“, der von Hannover aus schnell Berlin, Wien und München eroberte. Dessen Mitgliederzeitschrift trug den schönen Titel „Der Antirüpel. Das Recht auf Stille.“
Praktisch zeitgleich begann in Berlin der Apotheker Maximilian Negwer in seiner Schöneberger „Fabrik pharmazeutischer und kosmetischer Spezialitäten“ mit der Produktion von kleinen, formbaren Wachs-Watte-Kügelchen, die man sich in die Ohren stecken konnte, um sich gegen unliebsame Geräusche abzuschotten – so wie weiland Odysseus seine Reisegefährten gegen den verführerischen Gesang der Sirenen geschützt hatte: Das weltweit erfolgreiche Lärmschutz-Markenprodukt Ohropax war geboren.