Tuesday, January 31, 2012

Nach mehr als 100 Jahren wiedergefunden Die unglaubliche Geschichte der Bismarck-Aufnahmen


Edison auf Europatournee. Der Erfinder sitzt in der Mitte vor seinem Phonographen. Dahinter sein Mitarbeiter Theo Wangemann. Foto: National Park Service
Edison auf Europatournee. Der Erfinder sitzt in der Mitte vor seinem Phonographen. Dahinter sein Mitarbeiter Theo Wangemann. - FOTO: NATIONAL PARK SERVICE
Knistern, Rauschen und merkwürdige Texte. Offenbar auf Deutsch. Die amerikanischen Forscher wunderten sich über die Töne, die sie auf einer Phonographenwalze aus dem Jahr 1889 fanden. Schnell wird klar, dass hier ein Schatz zu heben ist.




In good old colony times,/When we lived under the King …“ Ein Mann rezitiert die ersten Zeilen eines im 19. Jahrhundert in den USA populären Volksliedes mit unverkennbar deutschem Akzent. Die Stimme gehört dem 74-jährigen Otto von Bismarck, Kanzler des Deutschen Reiches. Es ist die einzige Tonaufnahme Bismarcks. Eine historische Sensation, sagt der Berliner Restaurator Stephan Puille, Laboringenieur an der Hochschule für Technik und Wirtschaft. Entstanden ist die Aufzeichnung 1889 mit dem Phonographen des amerikanischen Erfinders Thomas Edison. Betätigt hat das Gerät Theo Wangemann, ein deutschstämmiger Mitarbeiter Edisons, der 1889/90 durch Europa reiste, um den Phonographen öffentlich vorzuführen – und Aufnahmen prominenter Stimmen zu machen.


Weit über 100 Jahre lang waren diese Aufnahmen vergessen, die Wachswalzen aus Edisons Phongraphen galten als verschollen. Doch jetzt hat die Stiftung, die Edisons Nachlass verwaltet, die Tondokumente teilweise veröffentlicht – begleitet von der schier unglaublichen Geschichte ihrer Wiederentdeckung und ihrer Entstehung.
Eine hölzerne Kiste mit Phonographenwalzen hatten Mitarbeiter des Edison-Museums in seinem ehemaligen Labor in West Orange, New Jersey, schon 1957 gefunden. Doch erst 2005 wurde die Kiste erneut untersucht, ihre mögliche Bedeutung erkannt. Äußerlich war den Walzen aus einem wachsähnlichen Material nicht anzusehen, was auf ihnen aufgezeichnet ist, sagt Stephan Puille. Es gelang den Forschern des Edison-Archivs, 12 der insgesamt 17 Tonträger abzuspielen und sie in digitale Audiofiles umzuwandeln.
Video: Otto von Bismarck, Friedrichsruh, 7. Oktober 1889 - VIDEO: NATIONAL PARK SERVICE
Schnell wird klar, dass hier ein Schatz zu heben ist. Johannes Brahms spielt seinen „Ungarischen Tanz Nr. 1“, der Kölner Musikologe, Komponist und Pianist Otto Neitzel spielt Auszüge des 3. Satzes des Klavierkonzertes Nr. 2 in f-moll von Frédéric Chopin, die erste überlieferte Aufnahme eines Chopin-Stücks.
Doch vieles blieb den amerikanischen Experten unverständlich, nicht nur wegen der schlechten Aufnahmequalität, des Knisterns und Rauschens, die der Phonograph erzeugt. Unidentifizierbares Tondokument, wahrscheinlich deutsche Stimmen – mit dieser Anfrage wendet sich im Frühjahr 2011 ein beteiligter Medienhistoriker an den Berliner Restaurator Stephan Puille, einen international bekannten Experten für frühe Tonaufnahmen.
„Friedrichsruh am 7. Oktober 1889“, knarzt eine männliche Stimme auf dem Audiofile, das sich Puille immer wieder vorspielt. Friedrichsruh, der Familiensitz der Bismarcks bei Hamburg. Für den historisch bewanderten Puille ist das ein Zeichen, an das er anknüpfen kann. Dass Bismarck dort 1889 Tonaufnahmen mit Edisons Phonographen gemacht hat, war den Zeitgenossen bekannt. Wie aus einem Forschungsbericht Puilles hervorgeht, schrieben unter anderem die „Wöchentlichen Anzeigen für das Fürstentum Ratzeburg“ und die „New York Times“ darüber. Die Berichte der Zeitungen deckten sich mit dem, was der Berliner Experte nach und nach heraushören, dechiffrieren konnte.
Das Aufzeichnungsgerät: der Phonograph. Foto: Stuart Miller
Das Aufzeichnungsgerät: der Phonograph. - FOTO: STUART MILLER
Nach dem englischsprachigen Volkslied spricht Bismarck einige Verse auf Deutsch aus der Heldenballade „Schwäbische Kunde“ von Ludwig Uhland: „Als Kaiser Rotbart lobesam/Zum heil’gen Land gezogen kam …“ Ebenso flüssig und zugleich getragen rezitiert Bismarck danach das alte Studentenlied „Gaudeamus igitur“. Weiter spricht er auf Französisch die ersten Zeilen der Marseillaise, der französischen Nationalhymne. Die Rezitation des Reichsgrafen endet mit dem „Rat eines Vaters an seinen Sohn“, Arbeit, Essen und Trinken „in Maßen und Sittlichkeit“ zu treiben.
Ein merkwürdiges Sammelsurium kurzer Liedzeilen und Verse, willkürlich als eine Art Testaufnahme in den neuartigen Phonographen des fernen amerikanischen Erfinders gesprochen? Stephan Puille erklärt die teils banale, teils provokative Textauswahl aus der Zeit und dem Umständen der Aufnahme. Wangemann habe erwartet, dass Bismarck sich mit einer Botschaft an die Deutschen diesseits und jenseits des Atlantiks wenden würde. Ein solcher Text sei offenbar auch schon vorbereitet gewesen. Doch dann habe sich Bismarck doch nicht dezidiert politisch äußern wollen. So entschied er sich für unverfänglichere Zitate. „In Good Old Colony Times“ etwa sei als Gruß an Edison zu verstehen. Der Rat des Vaters richtete sich wohl an einen Sohn Bismarcks.

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