Sunday, January 8, 2012

Fußgänger in der Gefahrenzone


  • Volles Risiko. Die Grunerstraße hinter den Rathauspassagen zu überqueren, gleicht einer Mutprobe. Foto: Kai-Uwe Heinrich

    Volles Risiko. Die Grunerstraße hinter den Rathauspassagen zu überqueren, gleicht einer Mutprobe. - FOTO: KAI-UWE HEINRICH
Passanten leben auf Berlins Straßen nicht besonders sicher. Sie sind umzingelt von Rambo-Rasern, Kamikaze-Radlern, schnellen Bussen und zu leisen Straßenbahnen. Ein Risiko-Report.




Diese Stadtwanderung beginnt an der Grunerstraße hinter den Rathauspassagen. Zehn Fahrspuren trennen das Klosterviertel mit Senatsverwaltungen, Amts- und Landgericht vom Alex – wie eine zeitgenössische Stadtmauer. Die vielen Fußgänger mit Zielen jenseits der Straße laufen Gefahr, direkt im Jenseits anzukommen: Erst fünf Spuren mit Verkehr von links, durchschnaufen auf der Sperrfläche in der Mitte – und ab über die anderen fünf. Der Tunnel spuckt die Autos aus wie ein Katapult. Am rettenden Ufer das Gefühl „Gerade noch mal gut gegangen“. Anderenfalls würde im Polizeibericht als Unfallursache stehen: „Überschreiten der Fahrbahn, ohne auf den Fließverkehr zu achten“.
Der ideale Platz also, um einen Stadtspaziergang zu beginnen, der zu den Unfallzahlen passt: Im ersten Dreivierteljahr 2011 sind fast 25 Prozent mehr Fußgänger im Straßenverkehr tödlich verunglückt als im gleichen Zeitraum 2010, hat das Statistische Bundesamt kürzlich mitgeteilt. In Berlin ist die Tendenz ähnlich: Von 54 Verkehrstoten im vergangenen Jahr waren 29 zu Fuß unterwegs. Im ganzen Jahr 2010 starben 44 Menschen; rund die Hälfte von ihnen waren Fußgänger, und ebenfalls rund die Hälfte traf keine Schuld. Als Fußgänger kann man manchen Fehler nur einmal machen. Kein anderer Verkehrsteilnehmer in Berlin lebt statistisch so gefährlich. Welcher Horror hinter der Zahl der jährlich rund 500 schwer verletzten Fußgänger steckt, lässt schon ein Blick auf den 1. Januar ahnen: Das Jahr war gerade eine Viertelstunde alt, als ein unbekannter Autofahrer in der Skalitzer Straße einen 50-Jährigen anfuhr. Der Fußgänger ringt mit dem Tod, der Autofahrer flüchtete. Täglich findet sich im Polizeibericht mindestens ein Fall, den man sich gar nicht im Detail vorstellen mag: Ein Abbieger kracht in eine 26-jährige Mutter, die ihr Baby im Kinderwagen über die Straße schiebt. Tage später braust eine Autofahrerin in der Grabbeallee illegal über die mittige BVG-Trasse – und rammt zwei Jungen, die schwer verletzt werden. Wenn so etwas Alltag ist, gibt es offenkundig ein Problem.
In einer Untersuchung der Polizei heißt es, Fußgänger kürzten oft ab, „um vermeintliche Zeitvorteile zu erlangen“. Vermeintlich? An der Grunerstraße läuft man zur nächsten Ampel mehrere Minuten. Und seit selbst bei Dunkelorange mindestens ein Autofahrer noch durchrauscht, sollte der grüne Ampelmann seinen Hut gegen einen Helm eintauschen.
Aber spazieren wir weiter: Selbst auf dem Alex als Quasifußgängerzone müssen sich Fußgänger vor ihren Feinden hüten: Ein falscher Schritt und sie geraten in die Schusslinie eines Kamikaze-Radlers, Paketlasters oder einer Tram. Spätestens im Getümmel an der Karl-Liebknecht-Straße zeigt sich, dass Fußgänger im Stadtverkehr das Ende der Nahrungskette sind, die irgendwo bei Allradcowboys und Lieferanten beginnt, sich fortsetzt über Taxi-, All- und Sonntagsfahrer, bevor sie Radler und Hunde erreicht, die dem Fußgänger zumindest das höhere Tempo bei Jagd und Flucht voraushaben. Die Verkehrsplaner haben die Gehwege entsprechend gründlich verpollert. Aber wenn an der Spandauer Straße erst ein abbiegender Rambo und dann die üblichen Radler mit ihrem geglaubten Immergrün die Fußgängerfurt kreuzen, ist der Flaneur wieder der Guppy im urbanen Haifischbecken.
Weiter führt der Weg an den Bauzäunen um die Staatsoper herum zum Opernpalais. Unter den Linden wechseln breite Gehwege mit kellerartigen Baustellenpassagen, aber die sind eher lästig als gefährlich. Hier drohen andere Risiken. „Gehen Sie da mal nachts lang“, rät Bernd Herzog-Schlagk. „Da leuchten die Laternen nur die Straße richtig aus, während es auf den Gehwegen schwarze Inseln gibt.“ Herzog-Schlagk ist Bundesvorsitzender des Fußgängerschutzverbandes. Ein Anruf bei ihm liefert ein weiteres Indiz für den Status der Fußgänger: Während der ADAC einem Konzern ähnelt und auch im Radlerclub ADFC das „A“ für „Allgemein“ steht, meldet sich Herzog-Schlagks Bürokollege am Telefon mit „Umkehr und Fuss e.V.“. Das klingt nach Splittergruppe und schlechtem Gewissen. Doch mit 30 Prozent Verkehrsanteil sind die Fußgänger in Berlin die größte Randgruppe, gleichauf mit den Autofahrern. Als Fachverband habe Fuss e.V. bundesweit 700 Mitglieder, sagt der Vorsitzende. Der ADAC zählt 20 000-mal so viele. „Würden wir richtig Politik gegen den Radverkehr machen, könnten wir zum Mitgliederverband werden.“ Doch im Gegenteil: „Wir planen gemeinsam mit dem ADFC eine Kampagne für mehr Rücksichtnahme.“

No comments:

Post a Comment