- Volles Risiko. Die Grunerstraße hinter den Rathauspassagen zu überqueren, gleicht einer Mutprobe. - FOTO: KAI-UWE HEINRICH
In einer Untersuchung der Polizei heißt es, Fußgänger kürzten oft ab, „um vermeintliche Zeitvorteile zu erlangen“. Vermeintlich? An der Grunerstraße läuft man zur nächsten Ampel mehrere Minuten. Und seit selbst bei Dunkelorange mindestens ein Autofahrer noch durchrauscht, sollte der grüne Ampelmann seinen Hut gegen einen Helm eintauschen.
Aber spazieren wir weiter: Selbst auf dem Alex als Quasifußgängerzone müssen sich Fußgänger vor ihren Feinden hüten: Ein falscher Schritt und sie geraten in die Schusslinie eines Kamikaze-Radlers, Paketlasters oder einer Tram. Spätestens im Getümmel an der Karl-Liebknecht-Straße zeigt sich, dass Fußgänger im Stadtverkehr das Ende der Nahrungskette sind, die irgendwo bei Allradcowboys und Lieferanten beginnt, sich fortsetzt über Taxi-, All- und Sonntagsfahrer, bevor sie Radler und Hunde erreicht, die dem Fußgänger zumindest das höhere Tempo bei Jagd und Flucht voraushaben. Die Verkehrsplaner haben die Gehwege entsprechend gründlich verpollert. Aber wenn an der Spandauer Straße erst ein abbiegender Rambo und dann die üblichen Radler mit ihrem geglaubten Immergrün die Fußgängerfurt kreuzen, ist der Flaneur wieder der Guppy im urbanen Haifischbecken.
Weiter führt der Weg an den Bauzäunen um die Staatsoper herum zum Opernpalais. Unter den Linden wechseln breite Gehwege mit kellerartigen Baustellenpassagen, aber die sind eher lästig als gefährlich. Hier drohen andere Risiken. „Gehen Sie da mal nachts lang“, rät Bernd Herzog-Schlagk. „Da leuchten die Laternen nur die Straße richtig aus, während es auf den Gehwegen schwarze Inseln gibt.“ Herzog-Schlagk ist Bundesvorsitzender des Fußgängerschutzverbandes. Ein Anruf bei ihm liefert ein weiteres Indiz für den Status der Fußgänger: Während der ADAC einem Konzern ähnelt und auch im Radlerclub ADFC das „A“ für „Allgemein“ steht, meldet sich Herzog-Schlagks Bürokollege am Telefon mit „Umkehr und Fuss e.V.“. Das klingt nach Splittergruppe und schlechtem Gewissen. Doch mit 30 Prozent Verkehrsanteil sind die Fußgänger in Berlin die größte Randgruppe, gleichauf mit den Autofahrern. Als Fachverband habe Fuss e.V. bundesweit 700 Mitglieder, sagt der Vorsitzende. Der ADAC zählt 20 000-mal so viele. „Würden wir richtig Politik gegen den Radverkehr machen, könnten wir zum Mitgliederverband werden.“ Doch im Gegenteil: „Wir planen gemeinsam mit dem ADFC eine Kampagne für mehr Rücksichtnahme.“
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